HUMANAE VITAE: 20 Jahre danach
Roma, 1988
Quis sicut Dominus Deus noster?
Die Feier des 20. Jahrestags der Enzyklika Humanae Vitae (H.V.), innerhalb dieses feierlichen akademischen Aktes der Inauguration kann sich in dieser Universität, die in besonderer Weise mit dem Bischof von Rom verbunden ist, nicht auf eine bloße Zeremonie beschränken. Es muß dies ein Anlaß sein, noch tiefer die letzte Bedeutung der Lehre zu betrachten, die in diesem päpstlichen Dokument dargelegt wurde und die sich während der vergangenen 20 Jahre schon genügend gezeigt hat. Ge statten. Sie mir zu Beginn, diese Bedeutung zusammenfassend darzulegen.
H.V. stellt einen der intensivsten Momente des Kirchlichen Lehramtes dar, denn sie verteidigt den Treffpunkt zwischen Gott und Mensch, in der Bekräftigung der Ehre Gottes und der honen Würde der menschlichen Person, die berufen ist, ihre Selbstverwirklichung in der Selbsthingabe zu finden. In einem Wort: es geht hier um die Sache Gottes und um die des Menschen.
1. Das Zusammentreffen Gottes mit dem Menschen. “Die Ehre dessen, der alle Dinge bewegt”.
Es ist bekannt, daß das Problem, für das Paul VI. eine Lösung bieten wollte, nicht die Erlaubtheit oder Unerlaubtheit der Verhütung war. Es war genauer gesagt die Erlaubtheit oder die Unerlaubtheit einer spezifischen Methode der Verhütung: der chemischen Verhütung.
Während der Vergangenen 20 Jahre konnten wir die tiefliegenden Wurzeln dieses Problems feststellen, das auf den ersten Blick ein sehr spezifisches ist. Die Wurzeln sind ans Licht gekommen: sie sind gepflanzt innerhalb der Beziehung des Menschen mit Gott, dem Schöpfer.
Es gibt im menschlichen Leben Erfahrungen, die so voll des “Mysteriums” sind, daß sie im Menschen jenes Staunen und jene Verwunderung hervorrufen, die die Quelle jeder metaphysischen und religiösen Forschung sind.
Darunter gibt es eine, die völlig einzigartig ist in ihrer offensichtlichen Einfachheit: keiner von uns ist auf Grund seiner eigenen Entscheidung in das sein getreten; jeder von uns hat sich im Sein vorgefunden. Diese “Tatsächlichkeit” unserer Existenz kann auf drei Arten erklärt werden — und wurde auch so erklärt: jeder von uns ist das Ergebnis des Zufalls — jeder von uns ist das Ergebnis einer unerklärlichen Notwendigkeit — jeder von uns ist das Ergebnis eines freien Aktes der schöpferischen Liebe Gottes. Die Behauptung der Zufälligkeit unseres Seins macht Konsequenterweise das Festhalten am Vorhandensein einer unzerstörbaren Bedeutung unserer Existenz unmöglich. Die Behauptung der Notwendigkeit unseres Seins macht konsequenterweise das Festhalten am Vorhandensein eines Grundes, für den es sich zu leben lohnt, eines Grundes, der wichtiger als das Leben selbst ist, unmöglich. Die Behauptung eines göttlichen Schöpfungsaktes am Beginn unseres Seins führt zum Festhalten an einer radikalen Abhängigkeit von Gott (das heißt, die den Akt des Seins selbst betrifft), einer Abhängigkeit, in die das menschliche Subjekt immer tiefer einzudringen berufen ist, um nicht in jenes Nicht-sein zurückzufallen, aus dem es hervorgeholt wurde. Und in diesen Raum, der sich mit dieser dreifachen Erklärung auftut. Ist der freie Wille berufen, sich zu entscheiden und eine Entscheidung über das letzte Ziel der Person zu treffen. Entweder sind wir durch Zufall geboren, sterben durch Zufall und leben durch Zufall, sodaß die Ausübung des freien Willens auf eine Möglich keit unter allen Möglichkeiten beschränkt ist. Oder wir werden notwendigerweise geboren, sterben notwendigerweise und leben notwendigerweise, sodaß die Person beschränkt ist auf einen Punkt, in dem unpersönliche Kräfte zusammentreffen, die von un persönlichen Gesetzen gelenkt werden: nicht “ich” bin, sondern “man” existiert; nicht “ich” sterbe, sondern “man” stirbt; nicht “ich” lebe, sondern “man” lebt. Oder wir werden durch den Akt einer frei schöpferischen Liebe geboren, sodaß jeder von uns berufen ist, einer Liebe zuzustimmen, die, — wenn man ihr gehorcht, — den Menschen aus seiner sterblichen Existenz in die Ewigkeit des Seins trägt, aus seiner Vergänglichkeit in das Licht der Wahrheit, aus seiner ursprünglichen Einsamkeit in die Vereinigung mit der Güte. Die beiden ersten Erklärungen sind der Zusammenbruch einer Freiheit, die sich, da sie den schöpferischen Akt als letzte Erklärung unserer Existenz ablehnt, entweder in den Überdruß eines reinen Experimentalismus (= reine Möglichkeit - Zufall) getrieben sieht oder in die Verzweiflung eines blinden Fatalismus ( = reine Notwendigkeit). Zwischen diese beiden existentiellen Abgründe gestellt, ragt der freie Wille empor in der Wahl des Gehorsams gegenüber einem göttlichen Gesetz, das zum Leben führt.
Was hat das alles mit H.V. zu tun? wird man sich fragen. Die vergangenen 20 Jahre haben deutlich gezeigt, daß nicht nur dies alles mit H.V. zu tun hat, sondern daß dies der wahre, der letzte “Grund des Zwistes” ist, der rund um diese Enzyklika entstanden ist.
Gestatten Sie mir, äußerst einfach zu beginnen. Wir beginnen unser Glaubensbekenntnis mit den Worten: “Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer ...” Wir können uns fragen: “Wann schuf Gott mich?” Nur eine Antwort ist möglich: Im Augenblick meiner Empfängnis selbst, denn es kann keinen Augenblick meiner Existenz geben, der nicht das Ziel des schöpferischen Aktes Gottes ist.
Das ist der Grund, warum das Konzil den menschlichen Fortpflanzungsakt als eine gewisse Teilhabe an Gottes schöpferischer Liebe bezeichnet hat (cfr. GS 50).
Auf der Grundlage dieser einfachen Erwägungen können wir unsere Überlegung weiterführen. Die Ausübung der ehelichen Geschlechtlichkeit stellt, wenn sie fruchtbar ist, den geheimnisvollen Berührungspunkt zwischen dem geschaffenen Universum des Seins und Gottes schöpferischer Liebe dar; es ist sogar der Punkt, an dem diese schöpferische Liebe in das geschaffene Universum des Seins hineintritt, im Hinblick auf das neue Ziel ihrer Möglichkeit. In diesem Augenblick — dem Augenblick, in dem ein fruchtbarer ehelicher Akt vollzogen wird — wird eine neue geschaffene Person wirklich und unmittelbar möglich. Der Mann und die Frau tragen die Verantwortung, diese Möglichkeit zu respektieren oder sie zurückzuweisen, sie durch Empfängnisverhütung zu zerstören. Die dem ehelichen Ak to anhaftende Fruchtbarkeit ist nicht eine bloß biologische Tatsache. Sie stellt die Eheleute objektiv in eine wirkliche Beziehung mit Gott, dem Schöpfer, ob sie sich nun dessen bewußt sind oder nicht.
Wenn sie in diese Beziehung gestellt sind, ist ihr freier Wille zu seinem höchsten Akt aufgerufen: zu bekennen, daß Gott der Schöpfer jeder Person ist, oder zu bekennen, daß der Mensch der Schöpfer des Menschen ist. Das heißt: der Mensch ist entweder in seinem Seinsakt selbst einer Freiheit überlasse übersteigt, oder er ist ausschließlich sich selbst überlassen, im Zufall oder in der Unpersönlichen Notwendigkeit des Geschennisses seines eigenen Werdens.
Paul VI. hatte in prophetischer Schau die wachsende Trübung des Glanzes der Ehre Gottes im geschaffenen Universum des Seins gesehen: “egent gloria Dei” (Röm. 3, 23).
In der Tat haben in diesen 20 Jahren viele Geschehnisse diese Prophezeihung in tragischer Weise bestätigt. Gestatten Sie mir, wenigstens 2 davon kurz in Erinnerung zu rufen.
A/ Das erste ist die fortschreitende Verkünstlichung der Ausübung menschlicher Sexualität.
Jeder weiß, daß einer der Hauptpunkte von H.V. die Behauptung einer untrennbaren Verbindung zwischen dem Aspekt der Fortpflanzung und dem der Vereinigung darstellt. Diese Behauptung ergibt sich direkt aus einer zentralen These der christlichen Anthropologie: aus der These der substanziellen Einheit der menschlichen Person. Insofern und gerade weil der fruchtbare eheliche Akt die Einheit der Eheleute in ihrer gegenseitigen Selbsthingabe ausdrückt und aktualisiert, kann dieser Akt von sich aus nicht das ausdrücken, was die menschliche Person in ihrer integralen Einheit ausmacht. Der fruchtbare eheliche Akt kann nur die Sprache der ehelichen Liebe sein, insofern und weil er die Voraussetzungen für den biologischen Prozess schafft, der zur Empfängnis einer neuen menschlichen Person führt. Diese Sicht des ehelichen Aktes, charakteristisch ist, bringt beide Dimensionen, die biologische und die spirituelle Dimension zusammen, denn weder ist jene aus schließlich biologisch, noch diese ausschließlich spirituell. Der Körper ist persönlich und die Person ist körperlich.
Wenn diese christliche Sicht der menschlicher Person im menschlichen Bewußtsein Verdunkelt wird, geschehen zwei äußerst schwerwiegende Dinge im geistlichen Leben: das erste ist schon in H.V. beschrieben; das zweite ist in diesen vergangenen Jahren in logischer Notwendigkeit geschehen.
Das erste ist die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, eine Trennung, die in der Verhütung ausgedrückt ist. Wenn wir tiefer in diese erste Tatsache eindringen, sehen wir, daß diese Trennung eine Beziehung der Person zu ihrem Körper impliziert, der vom Standpunkt des Nutzens aus betrachtet wird, was eine logische und fortschreitende Entpersonalisierung des Körpers selbst mit sich bringt. Der menschliche Körper ist dann eine bloß biologische Wirklichkeit, die wir gebrauchen können, ja müssen, um gewisse Ziele zu erreichen. Vom geistigen und kulturellen Gesichtspunkt aus ist diese Verdinglichung des Körpers ein Ereignis von tragischer Bedeutung. Aus vielen Gründen. Denn der Körper ist in Wirklichkeit ein konstitutives Element der Person; denn jede zwischenmenschliche Beziehung wird immer in und durch den Körper vermittelt, sodaß die Verdinglichung des Körpers zur Verdinglichung der Person als solcher führt und zum fortschreitenden Aufbau einer Kultur, in der die utilitaristische und die hedonistische Norm den Platz der personalistischen Norm einnimmt.
Das zweite ist die Trennung der Fortpflanzung von der Sexualität, eine Trennung, die in der künstlichen Fortpflanzung ihren Ausdruck findet. Wenn tatsächlich die biologische Dimension nichts weiter als das ist, wenn sie ausschließlich biologisch ist, kann sie als solche durch einen technischen Vorgang ersetzt werden, wenn Gründe dafür vorhanden sind. Nur diese Person in ihrer unwiederholten Einzigartigkeit ist unersetzlich: “etwas” kann immer den Platz von “etwas” einnehmen; “jemand” kann nie den Platz von “jemandem” ausfüllen.
Wenn wir diese zweifache Trennung aufmerksam betrachten, können wir sehen, daß in beiden Fällen ein identischer Logos, ein gleiches inneres Gesetz vorliegt. Das kann man erfassen, wenn man beobachtet, welcher Begriff von Verstand und Freiheit in dieser Sicht wirksam wird. Der Verstand ist nicht fähig, eine Wahrheit der menschlichen Körperhaftigkeit zu erfassen, zu sehen, eine ihr innewohnende und in sie eingeschriebene Bedeutung, die nicht mit dem Maßstab des Nutzens definiert werden kann, der mit dem Blick auf das Erlangen vorgegebener Ziele berechnet ist. Während dieser 20 Jahre kam es sogar so weit, daß die Existenz einer höheren Wahrheit, die mehr als das ist, geleugnet wurde. Das heißt, es wurde geleugnet, daß innerhalb menschlicher Körperlichkeit-Sexualität-Fruchtbarkeit ein Wert, eine Güte, eine Schönheit, die nur verehrt werden kann, existiert. Kurz gesagt: das technische Denken hat den Platz des ethischen Denkens eingenommen. Genauer gesagt: die Fortpflanzungsfähigkeit gehört zum menschlichen Tun und nicht zum menschlichen Handeln. Die Probleme also, vor die sich diese Begründung gestellt sieht, sind die der Wirksamkeit (Verhütungsmittel, die immer verläßlicher sind; künstliche Fortpflanzungsmethoden, deren Ergebnisse immer sicherer sind); und die Probleme des Abwägens, des Berechnens der verschieden möglichen Gewinne gegenüber den möglichen Verlusten.
Innerhalb dieses Denkens wird Freiheit nicht mehr als Verantwortung vor Gott, dem Schöpfer und dem höchsten Gesetzgeber begriffen oder erfahren, sondern als Verantwortung, ein Gut unter möglichst geringer Zahl von Verlusten zu erwerben: ein Gut, das die Freiheit selbst aus ihrer eigenen Entscheidung ausmacht.
Ich habe von einer Verkünstlichung der menschlichen Sexualität gesprochen. Ich hoffe, ich habe die Bedeutung und den Inhalt dieses Prozesses aufgezeigt. Aristoteles, und noch deutlicher der hl. Thomas, hatte schon klar zwischen zwei Grundbedeutungen der praktischen Vernunft unterschieden. Eine bedeutet die Ausübung eines Denkens, die Ausführung eines Plans, der autonom gefaßt ist durch die Manipulierung (“artificium”), einer Materie, die ihre Form nur von und in diesem Plan erhält. Die andere bedeutet im Gegensatz dazu die Ausübung eines Denkens, die Ausführung eines Plans, der nicht erfunden, sondern entdeckt wird, nicht diskutiert, sondern geachtet wird, durch den Gehorsam einer Freiheit, die sich der Wahrheit unterwirft.
Was H.V. gelehrt hat, als sie an der untrennbaren Verbindung zwischen dem Aspekt der Vereinigung und dem der Fortpflanzung festhielt, ist, daß die menschliche Sexualität nicht auf der Basis der ersten Art zu denken gelebt werden kann, sondern nur auf der Basis der zweiten. Und es gibt in der Folge eine Kette von weiteren Verkünstlichungen: von der Trennung der Sexualität von der Fortpflanzung ist man zur Trennung der Fortpflanzung von der Sexualität gegangen, bis hin zur Verkünstlichung der Familiären Gesellschaft, durch die Trennung der biologischen Mutter-Vaterschaft von der Schwangerschaft und von der gesetzlichen Mutter-Vaterschaft.
B/ Dieses erste Faktum — die Verkünstlichung der menschlichen Sexualität —, das in diesen zwanzig Jahren die veritas per contrarium von H.V. gezeigt hat, ist zu ein und derselben Zeit die Ursache und die Wirkung eines zweiten Faktums geworden, das das katholische Denken direkter und tiefer mit hineingezogen hat.
Wie Dante zu Beginn seines 3. Canto schreibt: Die Ehre Gottes “per l’universo penetra e risplende, in una parte più e meno altrove” (durchdringt und erleuchtet das Universum, einen Teil mehr, den anderen weniger). Es gibt Räume im geschaffenen Universum des Seins, in denen die Ehre Gottes hervorleuchtet und sich mit besonderem Glanz erblicken läßt. Einer davon ist der fruchtbare eheliche Akt. Darin und dadurch öffnet sich tatsächlich im geschaffenen Universum ein Platz für den Schöpferischen Akt Gottes; ein heiliger Raum, an dem Gott seine schöpferische Liebe zeigt. Die Verdunkelung der von H.V. gelehrten Wahrheit im Bewußtsein des Menschen von heute mußte unvermeidlich eine tiefe Krise im Verständnis der Beziehung des Menschen zu Gott, dem Schöpfer, herbeiführen: eine Beziehung, die gleichzeitig das Herz der metaphysischen Betrachtung, der ethischen Betrachtung und der religiösen Erfahrung ist.
Die zweite Tatsache, die in tragischer Weise die Prophezeihung von H.V. bestätigt hat, ist gerade der fortschreitende Verlust ethischer Erfahrung.
Der Mensch hat ethische Erfahrung — wie es Platon schon deutlich und wunderbar im Kriton ausdrückte —, wenn seine Freiheit durch eine bedingungslose und absolute Forderung angegriffen, herausgefordert wird. Augustinus gibt eine unvergleichliche Beschreibung dieser “Herausforderung” in den ersten Kapiteln des 12. Buches von “De civitate Dei”, wo er den Fall der Engel analysiert. Das Geschöpf, das mit geistiger Subjektivität begabt ist, befindet sich in einer Lage eines unbeständigen ontologischen Gleichgewichts. Als Geschöpf, das aus dem Nicht-sein kommt, ist es in seinem Sein veränderlich, dem Irrtum in seinem Denken ausgeliefert, der Einsamkeit in seinem Wollen zugeneigt. Sofern es geistig ist, kann es seine Erfüllung nur in Gott selbst finden, indem es im Leben Gottes lebendig wird, wahr im Licht des Wortes, liebend im Geschenk des Geistes. Das Heraustreten aus seiner Veränderlichkeit ist der höchste Akt seiner Freiheit, die die Person in der Fülle des Seins darstellt, in der Wahrheit und in der Liebe, oder sie in die Veränderlichkeit des Nicht-Seins fallen läßt, in die Unverständlichkeit des Irrtums, in die Einsamkeit des Egoismus. In seiner ethischen Erfahrung befindet sich der Mensch gerade an dem “Punkt”, an dem Zeit und Ewigkeit innerhalb seiner Freiheit aufeinander treffen: er ist gerufen, sich zu erheben und Erfüllung zu finden durch die Weisheit des Wortes, durch die Liebe des Geistes.
Deshalb hat der Mensch, wenn er sich zur ethischen Ebene erhebt, kein noch so geringes oder letztes Interesse mehr an den historischen Möglichkeiten, Folgen, Ergebnissen seines Handelns: er steht über solchen Berechnungen. Als Kriton ihm alle Folgen seiner Entscheidung, eher Unrecht zu erleiden, als zu tun, dar legte, konnte Sokrates nur antworten: “Was du forderst, ist un gerecht, und Unrecht darf man nie begehen”. Als Abraham aufgefordert wurde, seinen einzigen Sohn zu opfern, den Sohn der Verheißung, interessiert er sich nicht dafür, welche Folgen dieses Opfer für seine Nachkommen haben wird: sein oberstes Interesse ist der Gehorsam Gott gegenüber, und nicht die historischen Folgen seiner Handlung.
Warum geht die ethische Erfahrung verloren? Wenn sie auf die Anstrengung eingeschränkt wird, die Gerechtigkeit in der Welt triumphieren zu lassen, und nicht als die absolute und bedingungslose Forderung verstanden wird, in der Welt gerecht zu handeln; wenn sie nur Anstrengung ist, die Güter dieser Welt (die vor-moralischen Güter) in einem Höchstmaß zu beschaffen, und gleich zeitig die Übel (die vor-moralischen Übel) auf ein Mindestmaß zu beschränken, nicht aber verstanden wird als die reine und einfache Forderung “das Gute zu tun und das Böse zu meiden”. Aber hier muß unsere Überlegung streng theoretisch werden.
Der hl. Thomas schreibt, daß “das letzte Ziel des Menschen nicht das Gut des Universums sein kann” (I 2, 9.2, a.8 ad 2um), denn das gesamte Gut des Universums ist ein geschaffenes, und deshalb ein begrenztes Gut, während nur das ungeschaffene Gut die höchste Berufung des Menschen ist. Die erhabene Würde des Menschen besteht ausschließlich darin: “ut, licet sit ipsa mutabilis, inhaerendo tamen incommutabili bono, id est Summo Deo beatitudinem consequantur” (hl. Augustinus, De civitate Dei, 12, 1; PL 41, 349). Diese unmittelbare und direkte Beziehung zu Gott, die der Mensch durch seine Freiheit herzustellen berufen ist, ist die Basis für den absoluten und unbedingten Charakter der moralischen Norm und trennt sie auf Grund ihrer wesentlichen Verschiedenartigkeit von jeder anderen Norm menschlichen Handelns. Tatsächlich lenken diese anderen Normen die menschlichen Akte zur Erreichung eines Gutes, das geschaffen und begrenzt ist und das als solches kein letztes, absolutes und unbedingtes Interesse verdient, sondern nur ein Interesse, das vorletzt, relativ und bedingt ist; moralische Normen lenken, im Gegensatz dazu, menschliche Akte zur Erlangung des ungeschaffenen und unbegrenzten Gutes: des einzigen Gutes, das es verdient, aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele und mit ganzer Kraft geliebt zu werden. Ungehorsam gegenüber der ersten Art von Gesetz, der ein begrenztes Übel bewirkt, kann immer gerechtfertigt werden, um ein grösseres Übel zu vermeiden; per definitionem läßt jedes begrenzte übel tatsächlich an ein noch größeres übel denken. Ungehorsam gegenüber der moralischen Norm, der ein im Hinblick auf sein Ziel unbegrenztes Übel erzeugt, kann nie gerechtfertigt werden, um ein größeres übel zu vermeiden, aus dem einfachen Grund, daß “ein größeres als das Unbegrenzte” nicht existiert.
Ethische Erfahrung ist verloren gegangen, wenn sie nicht mehr die Luft der Ewigkeit atmet, das heißt, wenn behauptet wird, daß keine moralische Norm existiert, die die innerweltlichen Akte des Menschen lenkt, die keine Ausnahmen zuliebe; wenn behauptet wird, daß die Erfahrung des Menschen eine ethische ist, wenn er Güter und übel, die immer begrenzt sind, gegeneinander abwägt mit der Absicht, eine Wahl zu treffen, die, in der Zeit, die ersteren immer mehr steigert und die letzteren immer geringer macht. Sie ist verloren gegangen, da sie aufhört, der “Ernstfall” im Leben zu sein. Was ist in diesen Jahren seit H.V. in einem weiten Sektor des katholischen Denkens genau geschehen?
Die Lehre der Enzyklika ist die Verteidigung der Heiligkeit eines Raums, wo die Ehre Gottes mehr als anderswo durchdringt und hervorleuchtet, ein heiliger Platz, wo Gott seine Ehre als Schöpfer erweist. Nicht zufällig steht zu Beginn der Enzyklika ein Hinweis auf den großartigen Text des Briefes an die Epheser, in dem der Autor die Vaterschaft Gottes als Quell aller Vaterschaft im Himmel und auf Erden betrachtet. Unter welcher Bedingung konnte diese Lehre angegriffen werden? Und welche Folgen würden sich aus diesem Angriff ergeben?
Die radikale Bedingung war die, das kein Ereignis, kein Akt, der dem innerweltlichen Handeln des Menschen angehört, in sich und aus sich eine Bedeutung, einen Sinn, einen entscheidenden Wert für die Beziehung des Menschen zu Gott, dein Schöpfer und obersten Gesetzgeber habe. Sagen wir es in scholastischer Ausdrucksweise: es gebe keine “Akte, die von sich aus und in sich, unabhängig von Umständen, immer völlig unerlaubt sind, auf Grund ihres Objekts” (Ap. Exh. Reconciliatio et poenitentia, n. 17). Welche Folge hätte die Ablehnung der Lehre von H.V. gehabt? Das ist von einem, der diese Lehre abgelehnt hat, sehr gut beschrieben worden: “many theologians are arguing that one cannot isolate the object of an act and say that it is always wrong in any conceivable circunstances” (R. Mc Gormick, Notes on Moral Theology 1977, in Theological Studies (1978), S.76 bis S.103). Die zwei Punkte der Ablehnung — der Lehre der H.V. und der Existenz von Akten, die in sich selbst unerlaubt sind, das heißt, des absoluten Charakters moralischer Normen — haben sich eng verbunden und einander beeinflußt. Sie zeigten deutlich, daß Pauls VI. Verteidigung der Heiligkeit des ehelichen Aktes grundsätzlich nur das Bekenntnis und der Lobpreis der Ehre Gottes war, der “mit Glanz das Universum durchdringt”, wie der große Theologe Karl Barth unmittelbar nach der Veröffentlichung der Enzyklika sofort erkannte. Es war im Grunde nur die Erfüllung einer Pflicht, die dem Hirten der Kirche zusteht: zu verhindern, daß die ethische Erfahrung verlorengeht.
Obwohl das Problem, das durch H.V. gelöst wurde, in sich selbst betrachtet, ein sehr spezifisches innerhalb des allgemeinen Zusammenhangs ethischer Überlegung ist, gibt die darin gebotene Lösung Anstoß und Orientierung für die Lösung der tiefsten Probleme menschlicher Existenz, und deshalb auch der Ethik.
2. Die Würde des Menschen:“gloria Dei vivens homo”
Ich sagte zu Beginn, daß H.V. nicht nur die Verteidigung der Ehre Gottes ist, sondern auch die Verteidigung der Würde des Menschen. In diesem zweiten Teil meiner Überlegung möchte ich dies kurz darlegen, weiterhin im Licht der Ereignisse der letzten zwanzig Jahre.
Die zwei Sachen — die Sache der Ehre Gottes und die Sache der Würde des Menschen — sind nach Katholischer Lehre nicht zu trennen. Gott läßt seine Ehre nicht über der Asche des Menschen erstrahlen, vielmehr ist, gemäß dem berühmten Ausdruck des hl. Irenäus, das die Ehre Gottes, daß der Mensch lebt.
In welchem sinn ist die von H.V. dargelegte Lehre die Verteidigung der Würde des Menschen? In welchem Sinn trägt der in diesen zwanzig Jahren gegen H.V. geführte Angriff — sogar gegen die Absicht der Angreifer — die pathogenen Keime einer Zerstörung der Würde der Person in sich? In diesem Zweiten Teil möchte ich diese beiden Fragen beantworten.
2, 1. Um auf die erste Frage zu antworten, müssen wir noch ein mal von der zentralen Aussage der Enzyklika ausgehen, nämlich von der untrennbaren Verbindung der Aspekte der liebenden Vereinigung und der Fortpflanzung im ehelichen Akt. Diese Untrennbarkeit kann, wie wir gesehen haben, von einem zweifachen Standpunkt aus durchbrochen werden: indem man die Sexualität von der Fortpflanzung trennt, oder indem man die Fortpflanzung von der Sexualität trennt.
Die untrennbare Verbindung zwischen ehelicher Sexualität und Fortpflanzung leitet sich aus der katholischen Sicht der ehelichen Vereinigung als einer Vereinigung der Liebe ab, als einer Vereinigung der Liebe, die auf das Geschenk des Lebens hingeordnet ist.
Es ist an erster Stelle die Folge der katholischen Sicht der ehelichen Vereinigung als einer Vereinigung der Liebe: Empfängnisverhütung ist die Leugnung der Wahrheit ehelicher Liebe. In dem schon zitierten Text definiert der hl. Augustinus den wesentlichen Unterschied zwischen der Wahl der treuen Engel und der der gefallenen Engel folgendermaßen: “dum alii constanter in communi omnibus bono, quod ipse illis est Deus, atque in eius aeternitate veritate charitate persistunt, alii sua potestate potius delectati, velut bonum suum sibi ipsi essent, a superiore communi omnium bono beatifico ad propria defluxerunt” (De civitate Dei, cit.; PL 41, 349). An dieser Stelle müssen wir kurz auf den theo-dramatischen Charakter geschaffener Liebe — eine besondere Form davon ist die eheliche Liebe — hinweisen. Dieser theo-dramatische Charakter wurzelt in dem, was wir weiter oben das ontologisch unbeständige Gleichgewicht des geistigen Geschöpfes nannten. Da es seinen eigenen Seinsakt besitzt und nicht reduziert werden kann auf die verschwommene Form eines göttlichen Unum, da es eine wahre und eigene Freiheit besitzt, kann das geistige Geschöpf das Gute, das es erhalten hat, als sein eigenes betrachten und eine Selbstliebe, die ausschließlich ist, wählen. Oder aber es kann sein eigenes Sein als ein Geschenk anerkennen und so entscheiden, die Selbsterfüllung in der Selbsthingabe zu finden. Das Geschehen ist für jeden erschaffenen Geist völlig in diesem aut-aut enthalten: das Weizenkorn, das in die Erde fällt, stirbt entweder nicht und bleibt allein, oder es stirbt und trägt Frucht. Der empfängnisverhütende Akt fällt in diesen logischen Gedankengang als eine der zwei Möglichkeiten, die zu jeder geschaffenen Liebe, und daher auch zur ehelichen Liebe gehören. Und in der Tat, in dem Augenblick, in dem die beiden Eheleute ihrer ehelichen Liebe konkreten Ausdruck geben, ist etwas da, das sie einander nicht zu schenken beabsichtigen: die Fähigkeit jedes von beiden, den anderen zum Vater bzw. zur Mutter zu machen. Die Liebe spricht: von jedem Seienden und zu jedem Seienden: “Wie schön, wie gut ist es, daß du bist!”, denn, wie ich schon sagte, die Liebe bestätigt die Güte des Seins, nicht meines Seins. Der empfängnisverhütende Akt sagt: “Es ist nicht schön, es ist nicht gut, daß du das bist, was du bist!”, das heißt, fruchtbar, fähig, Leben zu schenken. “A superiori communi omnium beatifico bono ad propria defluxerunt”, schreibt der hl. Augustinus, wie wir sahen. Wir haben hier den abrupten Fall der geschaffenen Freiheit von einer Stufe der Seinsordnung auf eine unendlich tiefere Stufe. Was ist tatsächlich gemeint mit: “wie schön, wie gut ist es, daß du bist!”? Es bedeutet die Anerkennung, die Hochachtung, das Lob der Güte des Seins als solchem, den Wert des Seins als solchem: eine Güte und ein Wert, die sich vom höchsten Gut herleiten. Und das ist der Akt der Liebe, der die geschaffene Person in die Ewigkeit stellt, in die Wahrheit, in die Gemeinschaft. Was ist aber, im Gegensatz dazu, gemeint mit den Worten: “es ist nicht schön, es ist nicht gut, daß du bist!”? Es bedeutet die Leugnung der Güte des Seins, seiner inneren Schönheit und deshalb auch den Entschluß, noch etwas anderes einzubringen: die Schlauheit der Vergänglichkeit hat den Platz der Sicherheit der Wahrheit eingenommen, und der Nutzen jedes von beiden hat den Platz der Gemeinschaft der Liebe eingenommen.
Die Qualität der Person und die Qualität ihrer Liebe. Durch Verneinung der Erlaubtheit der Empfängnisverhütung, eine Verneinung, die keine Ausnahmen zuläßt, hat H.V. den Menschen — der berufen ist, in ehelicher Liebe zu leben, — zu seiner höchsten Fähigkeit zurückgerufen: zur Fähigkeit, in Wahrheit zu lieben. Gerade so wie “Sacerdotalis coelibatus” im selben Jahr den Menschen, der berufen ist, in jungfräulicher Liebe zu leben, zu derselben äußersten Größe zurückgerufen hat.
Eheliche Gemeinschaft in Liebe ist auf Fortpflanzung hingeordnet. Die klare und deutliche Zerstörung dieser Zielsetzung durch die Empfängnisverhütung eröffnet uns eine weitere, von H.V. vorgebrachte Verteidigung der Würde der menschlichen Person.
Wie kürzlich hervorgehoben wurde, verwendete die Kirche im Kirchenrecht, das bis 1917 in Kraft war, einen sehr starken Ausdruck im Hinblick auf jeden, der — verheiratet oder nicht — von der Empfängnisverhütung Gebrauch machte: “tamquam homicida habeatur”. Die Gleichsetzung, oder besser die Analogie, die das kanonische Recht Jahrhunderte hindurch zwischen Mord und Empfängnisverhütung festlegte, überrascht uns nicht mehr, wenn wir nicht ausschließlich auf die materielle Natur des Verhaltens in den beiden Fällen blicken, sondern eher auf die Absicht oder Willenslenkung, die von der Empfängnisverhütung Gebrauch macht. Im letzten ist die Entscheidung tatsächlich argumentiert und motiviert durch das Urteil: “es ist nicht gut, daß eine neue menschliche Person existiert”. Der Fall, der sich ontologisch und ethisch innerhalb der ehelichen Liebe ereignet und von dem wir eben sprachen, setzt sich auch in bezug auf die mögliche Person, und auch auf die Beziehung zwischen dem Ehepaar und der möglichen neuen Person fort. Die der Empfängnisverhütung anhaftende Haltung der Anti-Love ist identisch mit der Haltung des Anti-Life, da immer die Zurückweisung der Güte des Seins in ihr enthalten ist, die ausruft: “wie schön, wie gut ist es, daß du bist!”: “ad propria defluxerunt”, genau wie der hl. Augustinus schrieb.
Auf diesem Weg sind wir dazu gekommen, den letzten Sinn zu entdecken, in dem H.V. durch das Festhalten, an der Untrennbarkeit von Sexualität und Fortpflanzung die Würde der menschlichen Person verteidigt hat. Es ist die Bekräftigung der Wahrheit der Liebe als dem Ziel der Menschheit; und die Bekräftigung der Güte und der Schönheit des Seins. H.V. ist ein Teil des Engagements, eine Kultur der Wahrheit und der Liebe wiederaufzubauen, das den pastoralen Dienst Pauls VI. kennzeichnete.
Die untrennbare Verbindung von Fortpflanzung und Sexualität, die nicht explizit von H.V. bekräftigt wird, aber implizit vorhanden ist, ist in diesen letzten Jahren auf Grund der neuen künstlichen Fortpflanzungsmethoden notwendig geworden. Die Instruktion “Donum Vitae” hat nur systematisch entwickelt, was im Grunde bereits die Lehre von H.V. war; sie führte die Bemühung der Kirche um die Verteidigung der menschlichen Würde weiter.
An erster Stelle die Würde der Eheleute und ihrer ehelichen Liebe. Im Hinblick auf die Fortpflanzung können die Eheleute tatsächlich nie darauf reduziert werden, Lieferanten von Samenzellen zu sein, damit ein Techniker den Fortpflanzungsprozeß mittels der entsprechenden Manipulation in Bewegung setzen kann. Auch kann der eheliche Akt nicht auf die Tätigkeit, diese Zellen zu produzieren, reduziert werden.
Weiters die Würde des “concipiendus”, der nicht durch eine Tätigkeit in das Universum des Seins gebracht werden kann, die eine Beziehung von “Herrschaft” herstellt. Personen können nicht gemacht werden; sie können nur gezeugt werden.
Die Bekräftigung des gegenseitigen Enthaltenseins der Aspekte der liebenden Vereinigung und der Fortpflanzung innerhalb des fruchtbaren ehelichen Aktes kommt der Anerkennung der spezifischen Größe des geistigen Geschöpfes gleich, das im geschaffenen Universum des Seins einmalig ist. Sie kommt der Anerkennung gleich, daß sein eigener “modus”, das Maß seines Seins, seine eigene “species”, das heißt, seine innere Schönheit, und seine eigene “ordo”, das heißt, sein inneres Gesetz, nicht auf den modus — die species — die ordo irgendeines anderen Geschöpfes reduziert werden kann. Die Verteidigung der “Sache” Gottes ist vollkommen mit der Verteidigung der “Sache” der menschlichen Person zusammengefallen: diese koinzidenz ist der Kernpunkt der ganzen Enzyklika.
2, 2. Der in diesen 20 Jahren geführte Angriff gegen diese Koinzidenz — ohne Zweifel gegen die Absichten derer, die ihn anführten und noch heute anführen — hat nun die anti-menschliche, weil anti-theistische Kraft, mit der er geladen ist, zur Gänze gezeigt. Das ist die heikle Situation der Kirche, mit der ich mich nun kurz befassen möchte, um damit meine Überlegungen zu beschließen.
Ich werde damit beginnen, ein Faktum zu behaupten. Unter den Gründen, die man zur Verteidigung der, Erlaubtheit der Empfängnisverhütung anführte, waren und sind — nicht an letzter Stelle, was ihre Bedeutung betrifft — die (vermeintlichen) Erfordernisse der ehelichen Liebe.
Wenn wir uns nun fragen, inwiefern die weitverbreitete Verhütungsmentalität das Wohlergehen der ehelichen Gemeinschaft gefördert hat, kann unser Urteil darüber nur in tragischer Weise negativ sein. Wir haben den Punkt erreicht, an dem sogar der Wert der ehelichen Gemeinschaft als solcher in Frage gestellt worden ist mit dem Versuch, der durch einige zivile Regelungen unternommen wurde, jeder Art von Verbindung den gleichen Wert zuzuschreiben. Wir haben den Punkt erreicht, an dem man sich weigert, dem Recht der empfangenen, jedoch noch ungeborenen menschlichen Person auf Leben jedwede Art gesetzlicher Verteidigung zuzugestehen. Wir haben den Punkt der puren und einfachen Produktion menschlicher Personen zu Experimentierungszwecken erreicht. Diese Tatsachen besitzen ihre eigene innere Logik und verlangen nach ernsthafter Überlegung.
Ich habe von einer anti-menschlichen, weil anti-theistischen Kraft gesprochen, die in dem Angriff auf H.V. vorhanden ist. Nun möchte ich darauf zu sprechen kommen.
Das Heiligste im Menschen ist sein moralisches Gewissen, weil wir darin Gottes ursprüngliche Offenbarung seiner Glorie an die Menschheit haben. John Henry Newman hat unvergleichliche Betrachtungen über diesen Gegenstand geschrieben. Und in der Tat erklingt in unserem Gewissen der Ruf zum Bund mit Gott, die göttliche Stimme, die uns mit bedingungsloser und absoluter Kraft zur Vereinigung mit dem Herrn aufruft. Vor Gott existiert nicht das Menschengeschlecht: es existiert der einzelne Mensch, weil jede einzelne Person in und um ihrer selbst willen gewollt ist. Und diese Beziehung zwischen der einzelnen Person und dem Einzelnen ist im moralischen Gewissen verwurzelt (“solus cum Deo”: GS 16). Aus dem moralischen Gewissen entwurzelt zu werden, bedeutet, unvermeidlich in nutzlose Rhetorik über historische Aufgaben, den allgemeinen Sinn der Geschichte des Menschen und Derartiges mehr abzugleiten. Der “wissenschaftliche Ernst”, in den diese Art von Abhandlung oft verpackt wird, ist in Wirklichkeit nur das Feigenblatt, mit dem man die Schande der Leere zu bedecken sucht. Und so verunreinigt jeder Angriff gegen das moralische Gewissen nicht nur den Lauf des ganzen geistigen Lebens des Menschen, sondern seine Quelle selbst.
Mir scheint, daß in diesen 20 Jahren seit H.V. das moralische Gewissen durch die Angreifer der Enzyklika von 3 Gesichtspunkten aus attackiert worden ist.
Der erste ist die Leugnung der Existenz von in sich unerlaubten Akten, ausgehend von der Behauptung, daß dort, wo es um innerweltliches menschliches Handeln gent, moralische Normen, die Keine Ausnahmen zulassen, nicht existieren. Mit dieser Zweifachen Verneinung hört das moralische Gewissen auf, der Ort zu sein, an dem die Ordnung der göttlichen Weisheit in die konkrete tägliche Erfahrung jeder Person eindringt. Gerade in der zeitlichen Erfahrung der Person, die ihre Erfahrung ist; gerade auf ihrem Weg zum ewigen Leben, der der Sinn ihres Verweilens in der Zeit ist, hört die Person auf, “sola cum Deo” zu sein und wird “sola cum seipsa”. Genau das hatte schon Augustinus bemerkt: “ad propria defluxerunt”. Bei keiner Wahl, die in das Gewebe unseres täglichen Lebens eingeflochten ist, trifft der Mensch auf einen un bedingten Faktor, der “intimior intimo suo” ist, weil er “superior superiori suo” ist.
Doch der 1. Angriff wird von einem zweiten unterstrichen: von dem schwersten, den die geistige Geschichte der Menschheit je erfahren hat. Es ist die Behauptung der Kreativität des Gewissens. Das Gewissen ist nicht mehr der Ort, wo man der göttlichen Stimme lauscht; es ist selbst die Quelle, die die letzte Entscheidung darüber fällt, was moralisch erlaubt oder unerlaubt ist im innerweltlichen Handeln der menschlichen Person. Der ekklesiologische Aspekt bei der Behauptung der Kreativität des Gewissens ist wohl bekannt: es ist im eigentlichen Sinn des Wortes die Leugnung der Existenz eines moralischen Lehramtes, das für das innerweltliche Handeln der menschlichen Person zuständig ist. Diese vergangenen 20 Jahre haben gerade die Entwicklung der Theorie, die die Existenz einer solchen Zuständigkeit ausschloß, miterlebt.
Wenn wir einen Augenblick überlegen, zeigt sich uns, daß dieser doppelte Angriff grundlegend aus der Ablehnung der Wahrheit der Schöpfung entspringt. Und so kam es nicht von ungefähr, daß der Angriff gerade mit der Ablehnung von H.V. begann, die — wie wir gesehen haben — die pure und einfache Bestätigung dieser Wahrheit ist. Wenn der Glanz des schöpferischen Aktes gerade dort, wo er am hellsten hervorleuchtet, im fruchtbaren ehelichen Akt, verdunkelt wird, wird die menschliche Person der besten Möglichkeit beraubt, ihre Erleuchtung zu empfangen, und das moralische Gewissen geht verloren.
Aber was ist der Mensch, wenn ihm in seinem heiligsten Besitz, in seinem moralischen Gewissen Gewalt angetan wird? Beraubt dessen, was ihm erlaubt, sich über alles andere zu erheben, weil es ihn in direkte und unmittelbare Beziehung zu seinem Schöpfer bringt, wird er nur mehr ein Teil des Ganzen: der Konsens der Mehrheit, der Konsens in allgemeinen Werten schafft dann die Normen für das Handeln. Aber wenn man zu erkennen versucht, worin der Konsens besteht, merkt man, daß es etwas ist, was immer kleiner wird und schließlich rein formaler Art ist, oder daß jeder, der nicht zustimmen kann, der Achtung seiner Würde verlustig geht. Ist man nicht schon übereingekommen, daß die menschliche Person, die zwar schon empfangen, aber noch nicht geboren ist, keine Person ist und keine absolute und bedingungslose Achtung verdient? Und so werden jedes Jahr Millionen von Unschuldigen umgebracht. Schon Sokrates hatte seinen jungen Freund Kriton gewarnt, daß in solchen Fragen nicht die Meinung der Mehrheit das Kriterium sei, sondern die Wahrheit selbst, wobei er sein eigenes tragisches Ende in einer Gesellschaft des Konsenses deutlich voraussah: die Eliminierung des gerechten Menschen.
Gerade weil H.V. die “Sache Gottes” verteidigt hat, verteidigt sie die “Sache” des Menschen: die Heiligkeit und Individualität seines moralischen Gewissens, seiner Würde.
Schlußwort
Als Leitmotiv für diese Seiten nahm ich die Worte des Psalms: “Quis sicut Dominus Deus noster, qui habitat in coelis et humilia respicit?”. Es schien mir, daß kein biblischer Ausdruck besser zusammenfassen könnte, was in diesen 20 Jahren geschehen ist. Wer ist wie Gott, unser Herr, der in den Himmeln wohnt? Die Enzyklika H.V. nimmt ihren Ausgangspunkt von der Gewißheit, daß niemand und nichts wie Gott, unser Herr ist: daß die Ehre Gottes niemand anderem gezollt werden kann. Aber die Offenbarung selbst sagt uns, daß der Herr, der seinesgleichen nicht hat, seinen Blick auf den Geschöpfen ruhen läßt. Und Er blickt auf eine völlig einmalige, einzigartige Weise auf eines dieser Geschöpfe: auf das geistige Geschöpf. Das geistige Geschöpf als Gegenstand dieses Blicks “in tanta excellentia creata est ut, licet sit ipsa mutabilis, inhaerendo tamen incommutabili bono, idest summo Deo, beatitudinem consequatur” (“De civitate Dei”, loc. cit.). Die Enzyklika H.V. nimmt ihren Ausgangspunkt bei dem Willen und dem festen Entschluß, nicht zuzulassen, daß die menschliche Person ihrer großen Würde beraubt und gegen den auf sie gerichteten Blick Gottes abgeschirmt wird: “ut non evacuetur Crux Christi”.
Die erlösende Tat Christi gibt dem Menschen die Würde seines ersten Ursprungs wieder zurück; sie offenbart dadurch völlig den Glanz der Ehre des Vaters und läßt den Menschen an diesem Glanz teilhaben. Denn am Ende geht alles vorüber. Nur zwei Wirklichkeiten sind ewig: Gott, auf Grund seines Wesens, und das geistige Geschöpf, durch Teilhabe.
|